"Lieber eine späte Erkenntnis als gar keine Erkenntnis": Man mag diesem User-Kommentar auf der Facebook-Präsenz des Vereines "Tram für Kiel e.V." nicht widersprechen. Doch hinzufügen müsste man auch: Dass im Grunde genommen völlig eindeutige Ergebnis des am Freitag vorgestellten Gutachtens ist vor allem eine sehr späte Genugtuung für jene, die diese Erkenntnis schon seit langer Zeit hatten. Und viel zu viele Jahre mit besten Argumenten vergeblich Klinken geputzt hatten für einen öffentlichen Nahverkehr in der gesamten Region, der nicht nur Notlösung ist.

Tram in Straßbourg (2)

Die Faktenlage ist erdrückend eindeutig:

Es kann kein "weiter so" mit dem bisherigen Bus-ÖPNV geben und auch nicht mit einer "gepimpten" Variante, die keine eigene Trasse hat. Nur eine schienengebundene Tram hat das Potenzial, die Ziele der Stadt beim ÖPNV-Anteil nicht nur zu erreichen, sondern auch mit einer späteren Erweiterung in die Region deutlich zu übertreffen. Das Zauberwort ist "Kapazität". Eine Tram ist die klimafreundlichste Lösung. Sie ist im späteren Betrieb am kostengünstigsten. Nur ein Schienensystem bietet Möglichkeiten, den Straßenraum mit Rasengleisen zu gestalten. Und sie verbraucht dabei auch weniger Platz als ein System auf eigener Trasse ohne Schiene. Sie ist barrierearm. Sie bietet zudem Möglichkeiten der Fahrradmitnahme. Und sie ist weltweit und auch in Deutschland vielfach bewährt.

Die hohen geschätzten Investitionskosten für Schienen, Züge und Betriebshof von zusammen ca. 630 Millionen Euro relativieren sich auch schnell mit dem ebenfalls hohen Nutzen-Kosten-Verhältnis von 1,68. Das heißt ungefähr übersetzt: Jeder investierte Euro bringt einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 1,68 Euro. Das ist nicht nur ein Wert, von dem manch anderes ÖPNV-Projekt träumen könnte, sondern noch wichtiger: Die klare Voraussetzung, dass die Tram aus vielen Töpfen gefördert werden kann. Und es wird derzeit wohl niemand daran zweifeln, dass klimafreundliche Projekte mit großer Wirtschaftlichkeit hohe Priorität haben (DANKE GRETA!!!1!). Bis zu 90% Förderung sind denkbar, die nicht von der Stadt selbst gestemmt werden müssten.

So weit, so erfreulich. Leider gibt es auch mehrere Punkte, die für Ernüchterung sorgen.

1. Der Zeit-Faktor

2032?! Werde ich die Eröffnungsfahrt noch erleben?

Das kann niemanden befriedigen: Trassenplanung, Bürgerbeteiligung, Umsetzungsplanung, Ausschreibung bis 2027. Danach mindestens 5 Jahre Bauzeit in Abschnitten. Wobei erste Strecken schon früher in Betrieb gehen könnten. Auf Nachfrage im sogenannten Arbeitskreis Verkehrsmarketing*, der nach der öffentlichen Präsentation des Gutachtens tagte, sah man seitens der Verwaltung keinen Spielraum zur zeitlichen Straffung. Wer aber chinesische Verhältnisse ohne Bürgerbeteiligung möchte, werfe den ersten Stein ...

2. Die drohende Zerlaberung

Bus Rapid Transit?
Oder nicht doch lieber eine hyper-moderne U-Seil-Einschienen-RoboFähren-OBusBahn?

Bus Rapid Transit (BRT) auf eigener Trasse in Bogotá (3)

Es ist an sich nicht das Problem, dass auch das unterlegene System Bus Rapid Transit (BRT) noch einmal vertieft mitgeprüft werden soll im Zuge der Trassenplanung. Nach Aussage der Verwaltung im genannten Arbeitskreis könne das parallel geschehen, ohne dass die Prüfung zu einem weiteren zeitlichen Verzug führt. Lediglich der gutachterliche Kostenaufwand sei höher. Und man habe, so eine Einschätzung in jener Runde, am Ende im Kontext von Förderanträgen auch das gute Argument, Alternativen geprüft zu haben. So weit, so pragmatisch.

Doch das Problem ist, dass nun der Zeitraum bis zur endgültigen Systemwahl (BRT oder Tram!) Anfang 2023 eine Einladung für viele Leute sein wird, weiter viel halbgares Zeug zu reden. Und da muss man fairerweise sagen, dass diese Problematik nicht nur den Kieler CDU-Fraktionschef und seine Gummibahn betrifft. Sondern dass seitens grüner Mandatsträger auch gerne mal ganz dufte Ideen rausgehauen werden. Solange entsprechendes Hintergrundwissen (oder Demut) fehlt, lässt sich schön reden über Stadtseilbahnen, O-Busse oder Robo-Taxis, die unendlich viel Kapazität haben und quasi morgen einsatzbereit sind. Und dabei gleichzeitig natürlich mit Kusshand mit Fördermitteln geradezu überschüttet werden. Das gilt umso mehr aber noch für die Bundesverkehrsplaner in den sozialen Netzwerken. Von U-Bahn, O-Bus, Flugtaxi bis hin zur Wuppertaler Schwebebahn: alles schon gesehen!

Der Schreiber dieser Zeilen hat als Kind die Weipert-Seilbahn überm Bootshafen geliebt, findet das moderne, urbane Seilbahnnetz von La Paz (Bolivien) faszinierend und sieht in (geteilter) autonomer Mobilität auch sehr große Chancen, abseits von ÖPNV-Hauptachsen, Autoverkehr zu reduzieren.

Leider eignet sich der ÖPNV einer Großstadt wie Kiel nicht zum Beta-testen von exotischen oder nicht marktreifen Lösungen, die nicht genug Leute transportieren können.

Kurzum: Viel Energie wird bis 2023 in fruchtlose Zerlaberung verschwendet werden, die lieber heute schon in konkrete Ideen für die Neugestaltung des städtischen Raumes inklusive Tram gesteckt werden könnte. Die gutachterliche Faktenbasis hätte hier eine gute Grundlage geschaffen, nach jahrelangen Diskussionen endlich einen Schnitt zu machen und eine Entscheidung zu treffen.

3. Der Kieler Süden schaut in die Röhre. Vorerst.

Von den Gutachtern wurden drei Hauptkorridore identifiziert, die sich für eine erste Ausbaustufe für "höherwertigen ÖPNV" besonders eignen. Quasi die alte Linie 4 um die Förde herum, von der FH über die Uni nach Suchsdorf sowie von Elmschenhagen nach Mettenhof. Jeweils mit Führung über den Hauptbahnhof.

Wenn man hier noch die reaktivierte Hein-Schönberg-Strecke hinzuzählt, ist das bereits ein immenses Potenzial, um für weniger Autos auf Ostring und Theodor-Heuss-Ring zu sorgen. Natürlich kombiniert mit anderen Maßnahmen wie ausgebauter Rad-Infrastruktur oder Verteuerung/Verknappung von Parkraum in der City.

Die von dieser Seite, aber später auch von den Ortsbeiräten in Wellsee und Meimersdorf ins Spiel gebrachte Stadtbahn in den Süden wäre zwar auch ein Korridor "mit Eignung" für Tram oder BRT. Aber nicht mit Priorität für den Anfang, sondern für eine spätere Ausbaustufe. Das ist zunächst einmal enttäuschend, wenn man Pendlerverkehr möglichst schnell auch von der B404 weghaben will.

Vorerst chancenlos? Tram-Station im Gewerbegebiet Wellsee mit Park & Ride

Interessant wäre hier, das komplette Gutachten vorliegen zu haben, das derzeit (18.8.**) noch fehlerhaft verlinkt ist auf den Seiten der Stadt Kiel. Ist in der Potenzialanalyse das beschlossene riesige Neubaugebiet in Meimersdorf eingeflossen? Oder würde Park & Ride vom Gewerbegebiet für entsprechendes Potenzial für die erste Stufe sorgen?

Hinzu kommen natürlich auch Aspekte, dass eine Schienentrasse (Industriegleis) bereits vorhanden wäre und eben auch zwei grundsätzlich positive Voten von Ortsbeiräten. Wenn auch Meimersdorf aufgrund des weiten Planungsfortschrittes des Neubaugebietes mittlerweile partiell zurückgerudert ist.

Fazit

Das Gutachten ist eine großartige Hilfe für diejenigen, die an Infoständen, auf Versammlungen oder in sozialen Netzwerken für eine Tram werben. Die zeitliche Komponente ist unbefriedigend und es wird sicher auch noch darüber nachgedacht werden müssen, ob es nicht doch noch Optimierungsmöglichkeiten gibt. Insbesondere was die personelle Ausstattung im planerischen Bereich angeht.

Unabhängig davon, dass ein BRT-System noch "pro forma" mitgeprüft wird, wäre sicher hilfreich, wenn insbesondere innerhalb der CDU die Pragmatiker*innen das Kommando übernähmen und sich konstruktiv in den Prozess einbrächten, so dass möglichst frühzeitig über das "wie" der Tram diskutiert werden kann. Und rein taktische Nonsens-Debatten wie in der Vergangenheit nicht mehr geführt werden müssten.

Was den zunächst abgehängten Süden angeht, so wäre zu klären, ob das wirklich das letzte Wort und "alternativlos" ist. Oder ob ein Infragestellen quasi wie die oben beklagte Zerlaberung für zeitlichen Verzug sorgen würde. Durchaus ein Dilemma. Sollte es Bürger*innen und/oder Mandatsträger*innen aus dem Süden geben, die an so einer Klärung ebenfalls Interesse hätten: Gerne dabei!

Die späte, gutachterlich bestätigte Erkenntnis mag eine Genugtuung sein. Sowohl die immer offensichtlicher werdende weltweite Klimakrise, aber auch die lokalen Probleme mit schlechter Luft lassen einen ob der vergeudeten Zeit aber auch die Hände über den Kopf zusammen schlagen. Die richtige Antwort kann aber nur sein, stattdessen kräftig in die Hände zu spucken, um die Tram für Kiel so schnell wie möglich aufs Gleis zu bringen. Es ist allerhöchste Eisenbahn.

Hinweise

Bildnachweise:
(1) Bild oben: Tram in Montpellier, Richard Codina (CC BY-NC-SA 2.0)
(2) wikimedia
(3) miguelmatus, (CC BY-NC-SA 2.0)

 *Transparenz: Der Verfasser hat als Parteiloser für die Linke-Ratsfraktion teilgenommen.
**Das Gutachten ist mittlerweile korrekt verlinkt: (.pdf)