Verlängerung des Westrings im Rahmen des Straßenbauprojektes Kieler Hufeisen (1964) *

Es gibt da eine anrührende Geschichte, die seit gut zwei Jahrzehnten insbesondere von älteren Sozialdemokrat*innen in Kiel erzählt wird.
Sie geht in etwa so: Der Westring war bis in die 90er-Jahre überlastet. Deswegen wurde der "Westring II", nach dem großen schwedischen Sozialdemokraten "Olof-Palme-Damm" benannt, gebaut, um den jetzigen Westring zu entlasten. Und siehe da: es hat doch geklappt!

Genau so etwas müsste man doch auch auf dem Ostufer machen, das sowieso immer vernachlässigt wird. Dort, wo Leute mit weniger Geld wohnen und auch die SPD immer noch Direktmandate bei Wahlen holt. Also bauen wir dort den Ostring II (vielleicht "Helmut-Schmidt-Schnellweg"?), um den jetzigen Ostring von Verkehr zu entlasten!

Eine schöne Geschichte, die sich möglicherweise für ein Musical von Leonard Bernstein geeignet hätte. Aber leider nicht als Grundlage für politische Entscheidungen im Jahr 2020. Denn sie ist überwiegend fiktiv.

Korrekt erzählt geht die Geschichte nämlich so: Bevor der "Westring II" als B76 gebaut wurde, fuhren am jetzigen Westring am Tag in der Spitze etwa 50.000 Kfz lang. Jetzt nur noch bis zu 20.000. Fahren also nun die restlichen 30.000 Autos täglich auf der neuen B76?

Nein, 90.000!

Zusätzlicher, induzierter Verkehr. Für (fast) alle.

Und um mal die naive Vorstellung von manchen Politiker*innen zu zerstören: Diese zusätzlichen 60.000 Autos fahren nicht einfach von Großparkplatz A zu Großparkplatz B über diese neue Strecke. Sondern z.B. auch an der Luftmesstation am Theodor-Heuss-Ring vorbei und gefährden dort massiv die Gesundheit der Anwohner*innen.

Aber längst nicht nur das. Vielleicht 98% aller Ziele von zusätzlich induzierten Autofahrten liegen NICHT an vierspurigen Straßen. Sondern vielmehr dort, wo Menschen wohnen, Kinder Platz zum spielen haben sollten oder Senior*innen sicher mit Rad oder Rollator unterwegs sein sollten. Und auch in den Nebenstraßen des Westrings.

Bau des TH-Rings Richtung Saarbrückenstraße (Sept '64, Okt '64) *

Die Unwirtlichkeit unserer Städte hat viel damit zu tun, dass diese über Jahrzehnte autogerecht umgestaltet wurden. Und dann heißt es, oh Wunder: Der Parkraum ist zu knapp! Wir brauchen noch mehr Straßen!

Natürlich ist die vielfache Steigerung des Autoverkehrs nicht Folge einer einzelnen Maßnahme. Der Urheber dieser Zeilen ist gebürtiger Eutiner. Auch dort wurden Menschen mit insgesamt drei (!) Umgehungsstraßen von dem vielen Autoverkehr "entlastet". Südumgehung, Westtangente, Kerntangente. Heute gibt es an einer der "entlasteten" Straßen, der Elisabethstraße (ehemalige B76), eine zusätzliche "Bettelampel" für Fußgänger, die es früher nicht gab. Wegen des vielen Autoverkehrs.

Und dass früher durch Eutin Güterzüge mit über 35 Waggons (handgezählt!) auf der meist eingleisigen Bahnstrecke Kiel-Lübeck fuhren, ist Teil der Geschichte: Denn die Politik hat seit Jahrzehnten erfolgreich den Güterverkehr zur Schiene runtergerockt und Infrastruktur stillgelegt, während dem LKW der rote, sorry: graue Teppich ausgelegt wurde.

Auch die Lokalpolitik ist verantwortlich

Vieles kann man dabei sicher nicht direkt der Lokalpolitik anlasten, manches schon: Dieser städtebauliche Unterbietungswettbewerb mit Raisdorf, der zu solchen autogerechten Scheußlichkeiten auf der grünen Wiese wie dem Citti-Park führten. Und zu mehr Verkehr. Aber auch zu einer verödeten Innenstadt. Die zusätzlich generierten Steuergelder werden nun heute auch dafür verwendet, irgendwie die negativen Folgen abzumildern ... Stichwort Kleiner Kiel Kanal.
Und natürlich dann noch der Sündenfall schlechthin: die Abschaffung der Kieler Straßenbahn im Jahr 1985!

Dass solche Selbstverständlichkeiten und Binsenweisheiten hier überhaupt Thema sind, ist der sogenannten "Ostuferrunde" des SPD-Landtagsabgeordneten Bernd Heinemann zu verdanken. Via KN vom 19.8. machen da vorwiegend ältere Genoss*innen ihrem Ärger Luft, dass endlich der Ostring entlastet werden müsse. Und natürlich mit neuen Straßen wie der Südspange und dem Ostring 2. Und dann noch dieser "wohlfeile" Bohei, der da von Westufer-Genoss*innen um Umwelt und Klima gemacht wird!

Eigentlich wäre die Sache keiner Erwähnung wert, da glücklicherweise auch in der SPD langsam ein Umdenken einsetzt. So veröffentlichte die Kreis-SPD, wohl auch um intern die Wogen zu glätten, eine recht moderate Pressemitteilung. Kernaussage: "Wenn es eine Lösung gibt, die ohne Südspange auf bestehender Trasse funktioniert, werden wir uns dem nicht verschließen.

bernd heinemann stadtbahnDas Problem ist: Die Leute, die sich da beschweren sind häufig die gleichen, die vor Ort bei der Verkehrswende auf der Bremse stehen oder sich als Bedenkenträger hervortun. Hat man vom SPD-Ortsbeirat aus Wellsee eine engagierte Unterstützung für eine Stadtbahntrasse nach Süden vernommen? Nein, stattdessen vom CDU-Kollegen aus Meimersdorf! Und der SPD-MdL Heinemann? Auf der Homepage des Abgeordneten finden sich zu Stadtbahn oder Verkehrswende keine Einträge, dafür drei zu "A21". Seit 2013!  Auf der Homepage des Genossen Max Dregelies (umweltpolitischer Sprecher) seit 2018 hingegen jeweils sieben Einträge - zu A21 hingegen nichts.

"Ich warte auf den Verkehrsinfarkt": Mit einem Heinemann-Zitat betitelte die KN ihren Artikel. Dem brauch man wohl nichts hinzufügen. Beziehungsweise:

Das Klima kippt. Für die CO2-Ziele der Stadt wurde einstimmig der Masterplan Mobilität der KielRegion beschlossen, der eine Reduktion des Kfz-Verkehrs von 40% innerhalb Kiels bis 2035 vorsieht. Auch mit SPD-Stimmen vom Ostufer.

Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen und Personen. Auch parteiintern. Manch älterer Genosse mag lieber rührende Geschichten hören, als sich der verkehrs- und klimapolitischen Realität des Jahres 2020 zu stellen. Vermutlich gibt es aber auch solche, die im Hier und Jetzt leben und einen Ostring II im Jahr 2045 für eine komplett bescheuerte Idee halten.

WANTED:
(rot und lebendig)

Genoss*innen auf dem Ostufer, die die Verkehrswende voran bringen!

*Bildnachweis:


Alle Bilder: Magnussen, Friedrich (1914-1987), Stadtarchiv Kiel,  http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/